Plötzlich sind sie da: die großen alten Damen der Moderne.

Ob Louise Bourgeois, Maria Lassnig, Betye Saar oder jetzt Alice Neel – die als Männerdomäne vermutete Künstlerszene des 20. Jahrhunderts lüftet ihren Schleier über den weiblichen Genias und ihren Einflüssen auf unsere heutige Blickweise. Bis auf Betye Saar sind sie zwar leider schon alle tot, konnten ihren internationalen Ruhm aber noch in ihren späten Schaffensjahren miterleben und hoffentlich auch genießen. Bevor du dich also an einem regnerisch-trüben November-/Dezember-Nachmittag dem Winterblues hingibst, gehe lieber in die Deichtorhalle zur Alice Neel Retrospektive und lass dich von all den vielen gemalten Menschen neugierig, trotzig, gleichgültig, verwundet ansehen und – schau einfach aufmerksam zurück. Denn es gibt viel zu entdecken.
Portraits ganz ohne eitle Selbstdarstellung oder idealisierte Schönheit

Denn intensiv sind die Portraits alle, nicht schön, nicht idealisiert oder selbstdarstellerisch, eher schroff dem Betrachter oft in direktem Augenkontakt zugewandt. Ob in ihrer frühen Phase in den 1930er Jahren oder bei den letzten ihrer Bilder aus den 80ern – Alice Neel hat ihren ganz eigenen, unverstellten Blick auf den Zustand ihrer Modelle und zeigt ihn ohne Rücksicht auf Eitelkeiten oder konventionelle Schönheitsvorstellungen.

So malte sie ihre junge Ateliers-Kollegin Rhoda Myers auf krasse Weise nackt, Rhoda wirkt krank mit absurd dürren Armen und großen, umschatteten Augen. Dazu der Ausstellungstext: „Neel nimmt keine Rücksicht auf die Würde ihres Modells; sie stellt Myer’s Körper viel älter dar und versieht den Schatten zwischen ihren Beinen mit einer Andeutung von Schamhaar.“ Was Schamhaare mit Würdelosigkeit zu tun haben sollen, bleibt mir zwar unklar, doch das Bild hat mich zuerst unangenehm berührt, vielleicht, weil es an Fotos von hungernden Menschen erinnert.

Beim zweiten Hinsehen finde ich die Raumaufteilung und Farbigkeit mit dem üppigen blauen Hut und der korrespondierend blauen Halskette im Kontrast zur schmalen, nüchternen Figur eindrucksvoller als jede Nackte mit Idealmaßen. „Neel entzog das Sujet der Kontrolle männlicher Künstler, indem sie den weiblichen Körper auf eine Weise darstellte, die ihm jegliche erotische Spannung nahm.“, nun wieder der Begleittext. Abgesehen davon, dass es ja ein herber Verlust ist, wenn für Künstlerinnen Selbstbestimmung nur auf Kosten der Erotik zu erreichen wäre, kann ich auch nicht zustimmen, dass Neels Frauenkörper unerotisch wirken, liebe Kuratoren. Genauso wenig wie die der Männer. Selbst die kleine Enkelin mit Katze würde man heute wahrscheinlich mit Rücksicht auf die political correctness gar nicht mehr so ungeniert unbekleidet zur Schau stellen.
„Eine der bedeutendsten amerikanischen Malerinnen des 20. Jahrhunderts“

Alice Neel wurde 1900 geboren, sie starb 1984, bis heute ist sie in Europa ziemlich unbekannt. Auch wenn der Pressetext sie „zu den bedeutendsten amerikanischen Malerinnen des 20. Jahrhunderts“ zählt. Die Hamburger Schau, die vorher in Helsinki, Den Haag und Arles gezeigt wurde, bringt sie jetzt dem europäischen Publikum näher. Ob es etwas mit den Interessen des Kunstmarktes zu tun hat, wenn eine seit über 30 Jahren tote Künstlerin plötzlich an Aufmerksamkeit – und damit ja auch an Wert – zulegt?

Überhaupt gewinnt zurzeit die US-amerikanische Kunst des 20. Jahrhunderts bei uns an Präsenz, so auch durch die große Schau des neuen Potsdamer Kunsttempels Museum Barberini, wo im Sommer/Herbst auf mehreren Stockwerken Zeitgenossen von Alice Neel unter dem etwas irreführenden Titel „Von Hopper bis Rothko. Amerikas Weg in die Moderne“ großartig in Szene gesetzt waren. Leider war Mark Rothko nur mit einem für seine Verhältnisse winzigen Holztäfelchen vertreten, was ich den Ausstellungsmachern und Titelgebern übel nehme. Jedenfalls von Alice Neel in dieser Ausstellung keine Spur. Vielleicht ja, weil sie von Anfang an modern und jenseits traditioneller Vorstellung gearbeitet hat.
Ein eigenwilliges, bewegtes, ein engagiertes und arbeitsvolles Leben

Neben ihrer Kunst beleuchten die Exponate zusammen mit den textlichen Erläuterungen das nicht einfache Leben der Malerin. Dramatische Liebesbeziehungen, Tod eines Kindes, Verlust eines anderen, psychischer Zusammenbruch und Genesung, politisches Engagement in linken Kreisen – die ganze vielschichtige Person Alice Neel tritt dir da entgegen. Deutlich wird, dass Alice ihren eigenen Stil früh gefunden und über die Jahre weiter kultiviert hat. Das macht den Rundgang durch die Deichtorhalle auch besonders interessant, denn du wanderst dabei quasi durch die malerische Entwicklung einer Künstlerin während eines halben Jahrhunderts. Naja, gut gemachte Retrospektiven sind so. Geh einfach hin und begegne ihr selbst 🙂
